Nicht zu fassen, wie schnell ein Jahr vergehen kann. Noch ganz genau kann ich mich daran erinnern, wie wir vor knapp einem Jahr am Flughafen von San José angekommen sind und zum ersten Mal einen Fuß auf costa-ricanischen Boden gesetzt haben. Ich erinnere mich an die Fahrt im Auto und die erste Nacht in meinem damals noch neuen Zuhause; an die ersten vorsichtigen Schritte, die getan werden mussten, um sich in die neue Gastfamilie zu integrieren und die ersten spanischen Worte, die einem noch gar nicht so richtig über die Lippen kommen wollten; auch an die ersten Tage im Projekt, in denen man irgendwie noch nicht so richtig wusste, wohin mit sich und nichts von dem verstanden hat, was die Kinder von einem wollten. Inzwischen ist für mich beinahe alles hier für mich zum ganz normalen Alltag geworden und ich kann mir noch überhaupt nicht vorstellen, bald alles zurückzulassen und mich in den deutschen Alltag wieder einfinden zu müssen. Ich bezeichne meine Gastfamilie hier mittlerweile als Teil meiner richtigen Familie und liebe es einfach mit ihnen Zeit zu verbringen. Vor allen Dingen abends sitzen wir immer zusammen und reden über Gott und die Welt. Manchmal sitzen wir einfach gemeinsam vorm Fernseher oder spielen alle zusammen und andere Mal lachen wir zusammen, bis uns die Tränen kommen. Das wird mir definitiv fehlen. Und im Moment heißt es jeden Tag: Joanna, es kann doch gar nicht sein, dass jetzt schon ein Jahr vergangen ist. Wieso bleibst du nicht einfach hier? Und allein das, was es noch viel schwerer, bald Abschied zu nehmen. Auch im Projekt stellt man mir jeden Tag die gleiche Frage: Joanna, musst du wirklich gehen? Kannst du nicht einfach hier bleiben? Meine Chefin beklagt sich beinahe jeden Tag, dass sie gar nicht richtig weiß, was sie ohne mich machen soll und ich ihr auf jeden Fall sehr fehlen werde. Und auch mir wird das Projekt unendlich fehlen, denn meine Chefin ist für mich zu einer echt guten Freundin hier geworden und die ganzen Kinder sind für mich wie meine eigenen. Auch wenn es wirklich nicht immer einfach mit ihnen war, bricht es mir das Herz, wenn ich daran denke, dass ich sie vielleicht nie wiedersehen werde.
Ich kann behaupten in diesem einen Jahr viele Veränderungen bemerkt zu haben; sowohl Veränderungen im Projekt, als auch Veränderung an meiner Rolle im Projekt, als auch Veränderungen an mir selbst.
Im Projekt hat sich, wie ich finde, einiges zum Positiven gewandt, aber es haben sich auch Dinge zum Negativen verändert. Positiv ist definitiv, dass den Kindern inzwischen viel mehr Freizeitaktivitäten geboten werden. Während ich mich zu Beginn des Jahres beschwert habe, dass die Kinder außer Schule beinahe nichts zu tun haben und viel zu viel Zeit vor dem Fernseher verbringen, musste ich mich am Ende damit abfinden, dass ich meinen eigenen Stundenplan, nach dem ich mit den Kindern gearbeitet habe, stets ändern und mich sämtlichen anderen Aktivitäten abstimmen musste, die den Kindern inzwischen geboten werden. So haben die Kinder regelmäßiges Fußball Training und viele Kinder gehen zum Schwimmen und einige können Gitarrenunterricht nehmen. Es gibt inzwischen einen Chor, mit einem professionellen Musiklehrer, der mindestens einmal die Woche mit einer gewissen Anzahl von Kindern probt und regelmäßig kommen andere Freiwilligengruppen, die Aktivitäten in der Sporthalle anbieten, sei es malen, basteln, Armbänder machen oder Basketball spielen. Das ist eine positive Entwicklung, die wie ich denke, das Leben der Kinder viel angenehmer gestaltet, sie mehr auslastet und die Arbeit für zukünftige Freiwillige auch einfacher macht, weil diese sich nicht mehr fragen müssen, was jetzt grade am wichtigsten ist, wo es doch an allen Ecken und Enden etwas zu tun gibt, sondern sich viel mehr auf die schulische Unterstützung der Kinder konzentrieren können und nebenbei eher ein oder zwei größere Projekte planen können, ohne sich dabei so viele Gedanken darum machen zu müssen, dass man doch am liebsten überall zu gleich wäre. Was ich vor allen Dingen auffällig finde, ist dass all diese Veränderungen in der Zeit stattgefunden haben, in der das Pueblito ohne Direktor war, was ungefähr zwei Monate waren. In dieser ganzen Zeit ist mir aufgefallen, dass das Team des Leitungsbüros viel motivierter gearbeitet hat. Alle hatten auf einmal neue Ideen und sie wurden auch viel schneller ohne große Hindernisse umgesetzt. Doch seit dann Don Leonel als neuer Direktor ins Pueblito kam, fingen die Negativentwicklungen an, die ich oben erwähnte. Zunächst einmal war mir erst einmal mehrere Tage lang gar nicht klar, dass es überhaupt einen neuen Direktor gab. Ich habe den Mann zwar immer beim Mittagessen gesehen, aber es gibt immer mal wieder Besuch und er hat sich mir nicht einmal vorgestellt, so dass ich dachte, dass er nur vorrübergehend irgendwelche Arbeiten in der Oficina erledigen würde, bis am 3. Tag meine Chefin Emi dann zu mir meinte: „Joanna, kennst du eigentlich schon Don Leonel? Er ist der neue Direktor vom Pueblito.“ Ich war dann erstmal etwas perplex und meinte: „Oh, schön Sie kennen zu lernen.“ Er hat mich nur angeguckt, meinte „gleichfalls“ und hat sich dann wieder dem Fernseher zugewandt, wobei ich mir dachte: Na das kann ja heiter werden. Und ich hatte Recht. Nach zwei Wochen hielt er dann seine erste Rede vor den Oficina-Leuten (das erste und bisher einzige Zusammentreffen, dass er mit den Kindern veranstaltet hat, fand erst zwei 2 Monate später statt und ich glaube, er kann bis heute nur die Namen der wirklichen Problemkinder), in der er verkündete, dass sämtliche Arbeit von ihnen, die mit den Kindern zu tun habe, nichts mit ihm zu tun hätte und man ihn damit dann auch bitte belästigen möge. Eine etwas seltsame Einstellung für den Direktor eines Kinderheimes meiner Meinung nach. Er hingegen wandte seine ganze Aufmerksam darauf, die Arbeit der Señoras zu regeln und zu kontrollieren, was darauf hinauslief, dass er innerhalb kürzester Zeit 4 Señoras, die wie ich fand ein gutes Verhältnis zu den Kindern hatten, herauszuwerfen, ohne einen wirklichen Grund dafür zu nennen, und den anderen sämtliche Freiheiten, die sie einst hatten, entzog. So sind inzwischen die freien Tage der Frauen, die sechs von sieben Tagen der Woche 24 Stunden lang arbeiten, festgelegt worden. So hat jede Frau einen festen Tag (der ihnen zugeteilt wurde) in der Woche frei, zum Beispiel immer freitags oder immer sonntags. Vorher durften sie sich den Tag aussuchen und mussten nur mit der Leitung kurz absprechen, ob es für den Tag jemanden gab, der für sich einspringen konnte. Wenn die Frauen ein persönliches Ereignis an einem anderen Tag haben, wie dass sie ihre Kinder besuchen kommen oder der Ehemann von einer Reise zurückkommt – Pech. Für jede kleinste Aktivität muss die Erlaubnis von 3 verschiedenen Personen oder mehr eingeholt werden und im Allgemeinen befinden alle Señoras, dass sie sehr von oben herab und ohne Verständnis behandelt werden, so dass derzeit die meisten ziemlich unglücklich sind und der Gedanke, einfach zu gehen, immer naheliegender wird und das wie ich finde nachvollziehbarerweise. So kann man zwar immerhin sagen, dass es keine schlechte Entwicklung gibt, die direkt das Leben der Kinder beeinträchtigt, doch gibt es Señoras, die sagen, dass sie sich schon fast wie im Gefängnis fühlen und ich halte es für ungerecht, diesen Menschen, die eigentlich das Herz des Pueblitos darstellen und eine völlig unterschätzte Arbeit leisten, derart zuzusetzen und finde es deshalb auch nicht verwunderlich, dass so viele mit dem Gedanken spielen zu gehen, obwohl ihnen das Wohl der Kinder sehr am Herzen liegt. Für mich kann ich sagen, in diesem Jahr mein bestes dafür getan zu haben, das Leben der Kinder soweit es mir möglich war, angenehmer zu gestalten und zu einer guten Freundin für sie geworden zu sein. Ich habe mir vorgenommen, jedem einzelnen zu Weihnachten einen Brief zu schreiben, um ihnen zu zeigen, dass ich sie nicht vergessen habe und hoffe, dass ich auch die ein oder andere Antwort bekomme, grade von den Kindern, mit denen ich besonders viel Lesen und Schreiben geübt habe und bei denen inzwischen deutliche Fortschritte zu erkennen sind. Auch jetzt noch bin ich der Meinung, dass der Freiwilligendienst nach der Schule, für mich persönlich die beste Entscheidung war, die hätte treffen können. Ich habe das Gefühl reifer und selbstbewusster geworden zu sein. Ich habe hier in Costa Rica das Gefühl entwickelt, einfach zufrieden sein zu können, sowohl mit dem was ich tue als auch einfach mit mir selber als Menschen. Ich denke, dass ich mich selbst inzwischen so gut kenne, dass ich in der Lage bin, den für mich richtigen Weg im Leben zu gehen und auch die richtigen Entscheidungen für mich zu treffen. Ich bin in dem ganzen Jahr unheimlich zufrieden, wenn nicht sogar glücklich geworden und hoffe, dass mit der Heimkehr nicht auch Selbstzweifel und Unsicherheiten zurückkommen. Ich will gerne mehr Sprachen lernen und mehr von der Welt kennenlernen und bin gleichzeitig entschlossen, das geplante Medizinstudium anzupacken. In diesem Auslandsjahr sind die von mir erwarteten „Downs“ mit Fragen wie: Was mache ich hier eigentlich, wozu tu ich das und pass ich hier überhaupt rein, völlig ausgeblieben, so dass ich mir inzwischen vorstellen kann, in den meisten Ländern der Welt leben zu können, weil ich der Meinung bin, dass man überall auf der Welt Freunde finden kann und es nicht unbedingt mit dem Ort, an dem du bist, zusammenhängt, ob du glücklich bist oder nicht, sondern viel, viel mehr mit den Menschen, die dich an diesem Ort umgeben und damit, dass du mit dir selbst im Reinen bist. Ich will versuchen in Zukunft vorurteilsfreier durch die Welt zu gehen und Menschen, die offensichtlich aus anderen Teilen der Welt stammen, weniger schnell in Schubladen zu ordnen – auch wenn man das oft wahrscheinlich unbewusst (trotzdem) macht – denn ich weiß inzwischen wie unangenehm es sein kann, von aller Welt auf der Straße angesprochen zu werden und mit den Klischees des eignen Landes konfrontiert zu werden, obwohl sie auf einen selber vielleicht gar nicht zutreffen. Wobei ich auch gelernt habe, mit dieser Situation umzugehen und es inzwischen meistens eher lustig finde, die verdutzten Gesichter zu sehen, wenn mich draußen irgendwer auf Englisch anspricht und ich auf Spanisch antworte und sage, dass ich nicht aus den Staaten komme.
Alles in allem möchte ich einfach danken, die es mir ermöglicht haben, diese Erfahrung hier machen zu können und will nur noch zwei Dinge loswerden, deren Bedeutung ich in diesem Jahr sehr zu schätzen gelernt habe:
Toleranz und Lachen!
Das macht das Leben schon schnell viel angenehmer.
Hasta pronto Alemania!
Joanna